Züge, die ins Dunkle fahren

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlußlichter rasch kleiner wurden.

Dann verschwanden auch die letzten Zeichen des Zuges in der Nacht. Es war, als hätte er niemals hier gehalten, nur einige Schneeflocken und Eiszapfen, die vom Dach des Zuges herabgeweht waren, verrieten, daß er Wirklichkeit gewesen war. Deutlich erinnerten sie den Mann an die letzten schmerzlichen Minuten, als er Abschied von Eva nahm.

Vor wenigen Stunden hatte er ihr die Verlobungsringe angesteckt. Er wollte diesmal nicht von Eva gehen, ohne sie noch fester an sich zu binden. Ihr Glück war überschattet von dem schon lange andauernden Krieg.

Eva war mit ihm in diese Großstadt gefahren, um die wenigen Stunden, die ihnen geblieben waren, bis zum letzten Augenblick auszunutzen. Mit diesem Nachtzug war sie zurück gefahren, während er zu einem anderen Bahnhof gehen mußte. Er war Soldat und dort würde der Zug abfahren, der ihn wieder in das Kampfgebiet im Osten bringen würde.

Der Soldat stand nun allein auf dem Bahnhof. Niemals zuvor war der Abschied so schwer gewesen. Er sah noch Evas Gesicht in dem kleinen Ausschnitt, den sie mit ihrem Atem in die zugefrorene Fensterscheibe gehaucht hatte. Als er beim langsamen Anfahren des Zuges noch auf dem vereisten Trittbrett stand, hatte sie gelächelt, doch in ihren braunen Augen standen Tränen.

Der Soldat warf die erst halb gerauchte Zigarette in den Schnee, wo sie mit einem leichten Zischen erlosch. Dann wendete er sich dem Ausgang zu. Der Schaffner, der in seinem winzigen Schalterhäuschen auf ihn gewartet hatte, fror auch. Er sah alt und verhärmt aus und hatte eine rote Nase, an der ein winziges Tröpfchen hing. Der Soldat empfand bei diesem Anblick Mitleid mit ihm.

"Verfluchte Zeit", die Worte erleichterten den Soldaten, obwohl er wußte, daß nicht ein einziger Buchstabe darin zur Lösung seines Problems beitragen konnte. Diese Worte und noch kräftigere waren während dieses Heimaturlaubes schon oft gefallen. Es war ihm wie ein Wunder erschienen, daß er diesen Urlaub bei der angespannten Lage erhalten hatte. Über ein Jahr war er nicht mehr in der Heimat gewesen und hatte Eva nicht mehr gesehen. Sie hatte nichts von seinem Kommen geahnt, lachend hatte sie zu ihm gesagt: "Du bist der schönste Weihnachtsmann!"

Die ersten Stunden nach seiner Ankunft waren voller Wiedersehensfreude und Glück gewesen. Eva, die er vor drei Jahren kennen gelernt hatte, war ihm schöner denn je erschienen. Während dieser zwei Wochen Heimaturlaub wollte er sich nicht von ihr trennen, nicht einmal seinen Eltern einen Besuch abstatten. Verliebte, zärtliche Stunden sollten es diesmal werden, es hatte bisher so wenige für sie gegeben. Nur den Feldpostbriefen konnten sie ihre Sehnsucht und ihre Liebe anvertrauen.

Er hätte Eva am liebsten auf der Stelle geheiratet. Aber trotz seiner Liebe spürte er im Inneren einen leisen Zweifel, ob Briefe und wenige gemeinsame Stunden für ein ganzes Leben Eheglück ausreichen würde. Bitter lachte er auf.: "Ein ganzes Leben?" Es konnte in wenigen Wochen beendet sein.

Was würde dann aus Eva? Allerdings, was würde aus ihr, wenn sie nicht verheiratet waren? An die entfernte Zukunft konnte keiner mehr denken. Er nahm Evas Liebe, ihr Lachen und ihre Fürsorge glücklich an. Er wußte, später würde die Erinnerung daran oft helfen, verzweifelte Stunden leichter zu ertragen. Und diesmal würde es ihm gelingen, Eva ganz in sich aufnehmen.

Dann rief seine Schwester an, seine Mutter sei erkrankt, er sollte unbedingt kommen. Es war seine Pflicht, ihr konnte er sich nicht entziehen. Eva sah es ein und drängte ihn zur sofortigen Abfahrt. Es war eine weite Reise aus Evas Heimat bis an den Rhein.

Fünf Tage hatte der Soldat sich für den Besuch seiner Eltern vorgenommen, drei davon würde er auf der Bahn verbringen. Wegen des bereits sehr unregelmäßigen Zugverkehrs in den Westen gingen zwei Tage allein für die Hinfahrt drauf. In der Nacht vor seiner Rückreise gab es einen Fliegerangriff auf Köln, diesmal fiel das Haus, in dem seine Eltern wohnten, den Bomben zum Opfer.

Der Soldat erlebte bei diesem Luftangriff zum ersten Mal das Gefühl der ohnmächtigen Hilflosigkeit, unter der Erde eingesperrt zu sein, und nicht heraus zu können. Die vielen Menschen in dem Luftschutzkeller waren vor Entsetzen völlig verzweifelt und er spürte, wie die Angst auch ihn packte. Er hatte nur einen Wunsch, sofort wieder an die Front zurückzufahren. Dort konnte er sich zur Wehr setzen, er war nicht so hilflos dem Verderben ausgesetzt, wie die Menschen in den Kellern.

Noch waren alle unverletzt, die hier unten beim Schein einer Kerze saßen. Eine Frau rief, der Ausgang sei verschüttet. Der Soldat schüttelte seine Erstarrung ab, jetzt galt es zu handeln, es ließ ihn seine Angst vergessen. Gemeinsam mit seinem Vater und anderen Männern schafften sie die Trümmer von der Treppe weg. Endlich standen alle auf der Straße. Doch als er draußen die Flammen und die Zerstörung sah, kamen ihm Tränen.

Erst in der Nacht zum Heiligen Abend war er wieder in Evas Elternhaus. Vor ihrer Zimmertür zögerte er, gerne wäre er zu ihr hinein gegangen. Aber er fühlte sich dem Wiedersehen nach den Strapazen der vergangenen Tage nicht gewappnet, er war verschmutzt, erschöpft und ausgebrannt. Vor ihrem Bett würde er niederfallen und weinen. Ein Mann durfte seinen Schmerz so nicht zeigen.

Er ging in das Gästezimmer. Wie ein Toter fiel er in das Bett. Er wurde munter, als er Evas kleinen Hund bellen hörte und aus einem Radio Weihnachtslieder erklangen. Das kleine Zimmer war so friedlich, auf dem Nachttisch stand ein Bild von Eva, daneben ein Tannenzweig mit einer roten Kerze und ein Teller mit Pfefferkuchen. Welch ein Gegensatz zu den vergangenen Tagen.

Zwei Tage später war sein Urlaub beendet. Alles war anders gewesen, als er es sich vorgestellt hatte, seine Verzweiflung und seine Unruhe hatten die kurzen Stunden mit Eva überschattet. Eva hatte seine Trauer gespürt und sich von ihm zurückgezogen, sie glaubte wohl, nicht mehr mit ihm lachen und scherzen zu dürfen. Er wußte nicht, wie er ihr sagen sollte, daß er die Unbekümmertheit und ihre Lebenslust der ersten Tage so ersehnte. Bald würde wieder nur die Feldpost papierene Liebesworte befördern.

Jetzt wartete er frierend mit vielen anderen Soldaten auf den Truppenzug. Auf dem Bahnsteig gegenüber fuhr ein schnee- und eisbedeckter Zug aus der Halle. Der Soldat sah ihm mit brennenden Augen nach, bis auch bei diesem Zug die roten Lichter in der Dunkelheit verschwanden.

Der nächste Zug, der die Halle verließ, würde den Soldaten mitnehmen in eine gefährliche und ungewisse Zukunft, die das bald beginnende Jahr 1945 ungezählten Menschen bringen würde.

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