Die Sopranistin im Schrank.

In der kleinen Stadt gab es verschieden Schulzweige. Einer davon waren die "Gehobenen Klassen", die in späteren Jahren vielleicht mit einer Realschule gleichzusetzen war. Diese "Gehobenen Klassen" war nicht sehr ausgebaut und hatten ihre Unterkunft in einer Evangelischen Volksschule gefunden. Die Klassenräume befanden sich hoch oben unter dem Dach. Schräge Wände verkleinerten die Räume, im Sommer war es zu heiß, im Winter viel zu kalt. In jeder Klasse stand ein großer Kachelofen, den der Schulmeister im Winter täglich anheizen mußte. Das übrige Schulgebäude besaß eine Zentralheizung. Obwohl für den Besuch dieser Schule, die zur Mittleren Reife führte, ein Schulgeld bezahlt werden mußte, waren die Räume spärlicher ausgestattet, als die der anderen Klassen. Trotzdem fühlten sich die Besucher nicht als Schüler zweiter Klasse, sondern sie erwarteten daß sie dafür in geistigen Dingen bessser ausgestattet wurden, als in der Volksschule.

Die Klasse der Quinta lag direkt gegenüber dem Treppenaufgang, auch bei geschlossener Tür konnte durch das Schlüsselloch beobachtet werden, wenn der Lehrer die Treppe herauf kam. Dann saßen alle Schüler brav und mäuschenstill auf ihren Plätzen und wenn die Tür geöffnet wurde, sprangen alle auf und riefen wie ein Mann: "Guten Morgen, Herr Lehrer!"

Diesmal begrüßten sie ihren Klassenlehrer Hermann mit diesen Worten, der jetzt Erdkundeunterricht erteilen würde. Die Quinta wurde nicht von Engeln besucht, es ging genau so laut und unruhig wie in anderen Klassen zu. Gewiß wußten auch die Lehrer, was zum lobenswerten Verhalten dieser Schüler beitrug, wenn sie diese Klassse betraten.

Seit einigen Tagen hatten die Schüler beraten, welchen Streich sie verüben sollten. Es gab einen Wettbewerb zwischen den Klassen, welche Verrücktheit den überraschendsten Eindruck machte und vor allem noch unbekannt war. Das war schwer. Der eine Schabernack war schon ein alter Hut, der jährlich in irgendeiner Klasse auftauchte, für einen andere fehlte der Mut, denn böse Folgen wollte keiner auf sich nehmen. Endlich waren sich alle Schüler einig, das Spiel sollte heute beginnen. Es war alles vorbereitet und Lehrer Hermann wurde als Opfer ausersehen.

Lehrer Hermann begann seinen Unterricht. Er ließ umfangreiche Landkarten aufspannen, die Wandtafel mit dem Schwamm blank putzen, die Kreide bereit legen. Er vermißte seinen Zeigestock. Ein Schüler meldete sich: "Der Stock liegt im Klassenschrank!"

"Dann hole ihn schnell her," befahl der Lehrer.

Der Junge rannte zum Schrank und kramte lange darin herum. Endlich hatte er den Zeigestock gefunden und brachte ihn zum Lehrerpult.

Der Lehrer dozierte. Die Quintaner waren zu des Lehrers Erstaunen ungewöhnlich aufmerksam und ruhig, darum konnten alle sehr gut das Klavierspiel hören, welches plötzlich den Raum erfüllte. Gewiß saß der Musiklehrer, Herr Masurek, in der Aula am Flügel und erteilte Unterricht. Die Melodie erinnerte an den Vogelhändler. Schülern würde er solche Musik wohl nicht beibringen, vielleicht probte er wieder für die Aufführung einer Operette. Mit den Mitgliedern der Liedertafel übte Masurek immer wieder Singspiele oder Operetten ein. Wenn diese dann später im "Kaisergarten" aufgeführt wurden, hatten er und sein Ensemble rauschende Erfolge. Dazu trug im wesentlichen auch seine Frau Elsa bei, die eine großartige Solistin war.

Lehrer Hermann wurde es augenblicklich klar: Herr Masurek hielt mit seiner Frau Gesangsproben für den Vogelhändler ab. Masureks wohnten auf der anderen Straßenseite, der Schule gegenüber, darum war es nicht verwunderlich, daß die Melodien in der Quinta zu hören waren. Klar und rein erklang eine Frauenstimme: "Ich bin die Christel von der Post . . ."

Faszinierend, wie die Stimme von Elsa Masurek, trotz des Straßenlärms den Klassenraum erfüllte. Die Schüler wurden unruhig: merkte der Hermann denn nichts? Begeistert meinte der jedoch: "Psscht, Frau Masurek singt!

Aber schließlich mußte er Erdkundeunterricht erteilen, darum setzte er sich an seinen Pult und ließ die Fenster schließen. Überraschenderweise wurden Gesang und Musik noch viel deutlicher. Die Schüler rutschten auf den Schulbänken hin und her, schubsten sich an; verhaltenes Kichern war zu hören. Der Lehrer wurde mißtrauisch, seine Miene bedrohlich. Er lauschte, sprang auf, rannte zum Klassenschrank. Mit einem Ruck riß er die Tür auf, das Koffergrammophon nahm es übel, es gab noch einen schrillen Quietscher von sich, dann war Ruhe. Jetzt entdeckte der Lehrer den Ruhestörer.

Die ganze Klasse lachte laut, aber nicht sehr lange, denn es gab ein Donnerwetter. Bald hatte Lehrer Hermann das Geständnis. Ein Schüler hatte das Grammophon mitgebracht, ein anderer die Schallplatte. In der letzten Pause hatten die beiden das Grammophon in den Schrank gestellt und das Spielwerk aufgezogen. Der Zeigestock wurde im Schrank eingeschlossen und der Schüler, der den Stock heraus holte, setzte nur die Nadel auf die Platte und stellte das Garmmophon ein und schon erklangen Melodien aus dem Vogelhändler.

Obwohl auch dem Lehrer diese musikalische Darbietung sichtlich Spaß gemacht hatte, mußte er aus pädagogischen Gründen eine seitenlange Strafarbeit aufgeben. Aber der Quinta war das die Geschichte wert, so ein Streich war in dieser Schule noch nie verübt worden. Sie wußten, für lange Zeit würden sie Gesprächsstoff in allen Klassen sein.

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