Der Lauscher an der Wand . . .

Die Hitze im Zimmer war erdrückend. Vera erhob sich vom Tisch, um in den Garten zu gehen. Sie spürte, daß die Gäste ihres Vaters, der seinen Geburtstag feierte, sie beobachteten. Mit langsamen, wiegenden Schritten verließ sie den Raum, schüttelte dabei leicht den Kopf, damit ihre tizianroten Haare wie Flammen um ihr Gesicht wehten. Ihre tadellose Figur, ihre langen Beine, ihr strahlendes Lächeln erregten die Bewunderung der männlichen Besucher, während die Frauen ihr mißgünstig nachsahen. Ihre braunen Augen leuchteten übermütig, sie fühlte sich wie auf dem Laufsteg.

Als sie im Garten in die Nähe eines geöffneten Fensters kam, hörte sie den Namen, mit dem sie als Kind gerufen worden war. Sie blieb neugierig stehen.

Eine Frauenstimme sagte: "Hast du Vronis Kleid gesehen? Schamlos. Wie gefiel euch das Bild, das sie ihrem Vater gemalt hat. Das nennt sie Kunst!"

"Ach", antwortete eine andere Stimme, "Auf was ist Vroni so eingebildet? Was hat sie denn schon gemacht? Gerade die mittlere Reife hat sie auf dem Gymnasium geschafft. Dann besuchte sie in München einen Mannequin-Kurs. Mannequin, daß ich nicht lache. Hast du ihr Foto mal in einer Zeitschrift entdeckt?"

"Sie war auch zum Film gegangen, da war sie neunzehn. Aber sie bekam nur eine kleine, stumme Rolle. Der frühe Tod ihrer Mutter hatte sie wohl aus der Bahn geworfen, Vroni war damals vierzehn Jahre. Mit dem Vater, der sich nur um seine große Autoreparaturwerkstatt kümmerte, und mit ihren drei älteren Brüdern hatte sie sich nie verstanden", das war die erste Stimme.

Es meldete sich eine Dritte: "Mich wundert, daß sie den Toni vor einem Jahr geheiratet hat. Er arbeitet schon lange als Kraftfahrzeugmeister im Betrieb ihres Vaters. Er kannte Vroni seit Jahren. Aber es ist besser, wenn ihr sie nicht mehr Vroni nennt, das macht sie wütend. Der Toni ruft sie Veronika. Ihren Künstlernamen Vera, den sie sich in München gab, lehnt er ab. Ich glaube nicht, daß die Ehe hält."

"Oh, das wäre nichts Neues. Veronika war schon einmal verheiratet, mit einem Schauspieler. Aber nicht lange, dann ließ sie sich scheiden und arbeitete erneut als Mannequin. Vor knapp zwei Jahren erschien sie plötzlich wieder in Bad Tölz bei ihrem Vater. Ihre Heirat mit Toni kam überraschend, vielleicht wollte sie nur versorgt sein. Jetzt ist der Toni stolz auf seinen kleinen Sohn, der gerade einen Monat alt ist."

"Der wird auch seine einzige Freude sein. Veronika wird ihm keine machen. Sie ist jetzt vierundzwanzig, aber meint ihr, die kümmert sich um den Haushalt? Kathi Riedel, Tonis Mutter, versorgt ihn und auch das Kind. Veronika geht jetzt, so kurz nach der Geburt des Kindes, schon wieder Tennis spielen. Gestern sah ich sie bei Tonger, sie kaufte drei teure Rockplatten. Tonis Mutter erzählt, daß der Plattenspieler den ganzen Tag läuft."

Die drei Klatschbasen entfernten sich. Wie betäubt blieb Vera stehen. War sie wirklich diese Frau, von der die drei sprachen? Es stimmte fast alles, doch wie sie es ausdrückten klang es schadenfroh und gehässig. München hatte ihr eben nicht viel Glück gebracht. Ihre Schwiegermutter ließ sie doch überhaupt nichts machen. Vera und Toni lebten bei der Schwiegermutter in deren großen Haus, bis vor einigen Jahren führte sie darin eine Pension. Kathi sorgte gern für viele Leute. Vera glaubte, daß Kathi glücklich war, weil sie nun wieder eine Aufgabe besaß. Sie war in das Baby vernarrt, warum sollte Vera ihr es ihr nicht überlassen?

Die Leute glaubten, daß Toni nichts zu sagen hätte? Vera mußte zugeben, daß er fast jeden ihrer Wünsche erfüllte, soweit es finanziell möglich war. Doch verschwenderisch war sie nicht, sie hatte während der Münchener Zeit immer sparsam gelebt. Toni war nicht ihre große Liebe, aber sie hatte ihn gern und fühlte sich in seiner Fürsorge wohl.

Was konnte sie anfangen, um es den Leuten hier recht zu machen? So leben, wie die drei Klatschbasen? Oder nur für andere da sein, wie ihre Schwiegermutter? Nein, tief in ihrem Inneren spürte Vera, daß sie eines Tages wieder einmal alles hinter sich lassen würde. Es gab so viele Verlockungen.

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