Getrennte Kasse im Urlaub Oberstudienrat Becker stand bei zwei Kollegen, mit denen ihn eine lose Freundschaft verband, im Lehrerzimmer. Sie fragten, welche Pläne er für die Ferien habe. "Nichts besonderes, ich werde einige Tage nach Belgien fahren und nach naturwissenschaftlichen Werken suchen. Allein macht Urlaub keinen Spaß." Studienrat Winter schlug vor: "Kollege Becker, Sie sollten ein Inserat aufgeben und eine Urlaubspartnerin suchen. Das ist heute nichts besonderes mehr." Als Becker ging, sagte Winter: "Seit zwanzig Jahren ist er nun hier an diesem Gymnasium. Ich glaube, wir sind die einzigen Kollegen, mit denen er schon mal privat verkehrt. Becker hat auch nie geheiratet, die einzige Leidenschaft, die er hat, ist seine naturwissenschaftliche Bibliothek. Nicht mal einen Fernseher besitzt er!" Der andere entgegnete: "Waren Sie schon mal bei ihm? Das Wohnzimmer ist vollgestellt mit Bücherregalen, in einem Glasschrank stehen seine wertvollsten Werke, alte ledergebundene Bücher in lateinischer Sprache. Vor dem Fenster ist gerade Platz für ein Aquarium, schöne exotische Fische sind darin." Während Becker seiner kleinen Wohnung im Berliner Hansaviertel zuschritt, ließ er sich den Vorschlag Winters durch den Kopf gehen. Er würde es versuchen. Ein Text fiel ihm ein, er sollte lauten: "O.Stud.Rat (5o/1,75/78) sucht gebildete Reisepartnerin für Studienreise nach Polen. Getrennte Kasse, getrennte Zimmer." Irene Pfarr, die einige Tage später diese Anzeige las, war des Alleinreisens müde. Kurzentschlossen schrieb sie an die angegebene Chiffre. Sie bekam Antwort. Sie war erfreut, daß der Schreiber, ein Jürgen Becker, genau wie sie, im Hansaviertel wohnte. Sie verabredeten sich in einem Restaurant zum Kennenlernen. Becker war ein großer, stattlicher Mann. Seine dunklen Haare lichteten sich bereits. Er sah älter aus als fünfzig. Redselig war er nicht, er hatte aber eine angenehme, beruhigende Stimme. Die Unterhaltung stockte immer wieder. Irene kannte das Gymnasium, an dem er unterrichtete. Ihre Tochter hatte es besucht. Sie konnte sich denken, daß der steif wirkende Becker dort oft respektlos behandelt wurde. Die gemeinsame Reise ging dem Ende zu. Sie waren gute Partner gewesen, aber mehr nicht. Becker hatte ihr aus seinem Leben erzählt. Es war nicht aufregend, er war in Hamburg geboren, seine Mutter war vor der Ehe Kindergärtnerin, sein Vater war Angestellter der Senatsbehörde gewesen. Seine Strenge hatte Becker veranlaßt, das Elternhaus zu verlassen, obwohl er bereits mit einem Studium in Hamburg begonnen hatte. Er studierte in Berlin weiter, belegte Mathematik, Physik, Chemie, weil ihm das Lehramt an Höheren Schulen als Ziel vorschwebte. Die Referendarzeit verbrachte er in Hamburg. Aber bald zog es ihn wieder zurück nach Berlin. Vor einigen Jahren erbte er von einem Onkel einige Kisten mit alten Büchern. Zu seinem Erstaunen war es nur Werke der Naturwissenschaft, es befanden sich viele Raritäten darunter. Die Leidenschaft für diese Bücher packte ihn. Irene fragte sich, ob ihn die Jagd nach alten Büchern zu diesem Sonderling werden ließ. Seine fanatische Suche nach alten Werken hatte Irene während dieser Reise kennen gelernt. Sie hatte ihn begleitet, wenn er unterwegs in Büchereien oder kleinen Läden danach suchte. Aber sie war es, die dann eine wirkliche Rarität entdeckte. Am letzten Reisetag schlenderten beide durch die Straßen Danzigs. Irene machte Becker auf ein kleines Lädchen aufmerksam. Drinnen war es dunkel, einige Bücherkisten standen auf der Erde. Irene hob wahllos ein vergilbtes Buch heraus und zeigte es Becker. Sie hörte seinen erstaunten Ausruf: "Irene, was haben Sie entdeckt?" Vor Freude strahlend, erklärte er: "Das ist eine Schilderung von Cooks zweiter Weltreise, die dieser um 1770 unternahm, von Forster, er war ein Danziger." Irene fand, daß Becker öfter lachen sollte, es machte ihn richtig sympathisch. Alle Steifheit war von ihm abgefallen. Aber das konnten wohl nur Bücher fertigbringen, keine Menschen. Was verbarg sich hinter seiner Einsamkeit? Sie würde es wohl nie erfahren. *** |