| Jirschi, ich habe Durst Jirschi kam aus Prag, ich aus Breslau. Alle Ferientage verbrachten wir bei Verwandten in Grafberg, einer tschechischen Gebirgsstadt. Als ich dreizehn und Jirschi siebzehn Jahre alt war, rief ich ihm während einer Wanderung zu: "Jirschi, ich habe Durst!" Jirschi schöpfte mit den Händen Wasser aus einem Brunnen und ließ mich daraus trinken. Bevor ich den letzten Schluck nehmen konnte, patschte er mir das Wasser übermütig ins Gesicht und drückte mir rasch einen Kuß auf den Mund. Lachend rief er: "Du, wenn du schreist, heirate ich dich nicht." Im Jahr darauf, es war 1933, war Jirschi böse auf die Deutschen und auf mich. Zur Begrüßung gab es die Worte: "Darf ein BDM-Mädchen mit einem Tschechen sprechen?" Als ich das nächstemal nach Grafberg kam, war ich bereits achtzehn. Während ich mich im Garten meiner Tante sonnte, erschien im nachbarlichen Garten ein tschechischer Offizier. Das mußte Jirschi sein. Als der Offizier mich entdeckte, zögerte er kurz, dann sprang er mit einem Satz über den Zaun und schon lag ich in seinen Armen. "Hallo, du bist ja erwachsen geworden, fast hätte ich dich nicht erkannt." Die Uniform stand Jirschi gut, er sah blendend aus. Er war groß, schlank, braungebrannt und hatte lustige Augen. Ich verliebte mich rettungslos in ihn. Alles was uns getrennt hatte, existierte nicht mehr. Wie Minuten verflogen die Stunden. Leider mußte er bald wieder weg. Ich begleitete ihn zum Bahnhof. Ehe der Zug einfuhr, umarmte mich Jirschi stürmisch. Ohne auf die Leute ringsherum zu achten, küßte er mich leidenschaftlich. Mir wurde es ganz kribbelig, oh, es war ganz anders, als beim ersten Kuß in den Bergen. Die trennenden Grenzen waren einige Monate nach dieser Begegnung gefallen, Grafberg gehörte nun zu Deutschland. Jetzt könnten Jirschi und ich uns ohne Schwierigkeiten gegenseitig oft besuchen. Ich machte den Anfang. Sobald es möglich war, suchte ich Jirschis Tante auf. Welch ein Zufall, Jirschi war auch bei ihr. Statt der Uniform trug er wetterfeste, warme Kleidung, bestimmt wollte er in die Berge. Da werde ich sofort mitgehen. Freudig reichte ich ihm die Hand, er schlug sie beiseite und zischte: "Jetzt habt ihr Hitlerdeutschen erreicht, daß ich mich verstecken muß." Es war wie ein kalter Wasserguß, der mich traf. Seine Tante nahm mir das Versprechen ab, niemandem von Jirschis Anwesenheit, die ich nicht verwunderlich fand, zu erzählen. Er hatte sich unerlaubt von der tschechischen Armee entfernt und wurde als Deserteur gesucht. Warum durften wir nicht glücklich sein? Bald begann der Krieg, er dauerte bereits vier Jahre. Die sorgenvolle Zeit ließ die Sehnsucht nach Jirschi verblassen. Es gab selten Urlaub, einige Tage konnte ich dann doch noch einmal nach Grafberg fahren. Wie früher auch, ging ich zu Jirschis Tante. Als ich die Küche betrat, war keiner da, auf dem Tisch lagen Butterbrote, eine Thermoskanne stand daneben. Die Tür ging auf, die Tante kam herein, hinter ihr ein Mann in dunkler Skikleidung. Jirschi! Einen Augenblick schauten wir uns an, Jirschi sah alt aus, abgehetzt und halbverhungert. Seine schönen braunen Augen waren tiefernst. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Ich wollte, ja, ich durfte ihn nicht sehen. Schnelle Schritte, eine zuknallende Tür verrieten, daß Jirschi nicht mehr da war, auch die Brote und die Thermoskanne fehlten. Seine Tante weinte. Jirschi lebte schon lange im Untergrund. Manchmal versteckte sie ihn für einige Tage. Nie dürfte ich erzählen, was eben passiert war. Mein Herz schlug noch für Jirschi, ich würde ihn nicht verraten. Viele Jahre lebte Jirschi bereits auf der Flucht, einmal würde man ihn fassen. Für mich stand fest, Grafberg würde ich für immer meiden, hier konnte ich auch in Gefahr kommen. Das Kriegsende kam. Ich war vor den kämpfenden Truppen aus meiner Heimat geflohen und erlebte es in der westlichen Tschechoslowakei. Alle Deutschen, die hier Zuflucht gesucht hatten, mußten das Land verlassen. Seit vierundzwanzig Stunden stand der überfüllte Transportzug bereits auf dem Bahnhof. Hunger meldete sich, der Durst wurde unerträglich. In einem Schuppen am Rande der Gleise schenkte ein Zivilist Wasser aus. Ich reihte mich in die Reihe der dort stehenden Menschen ein, es dauerte lange, bis ich meine Kanne gefüllt bekam. Ein tschechischer Offizier stand beobachtend neben der Reihe. Die Lippen fest zusammengepreßt, starrte er ausdruckslos über alle hin, sicher bemerkte er nicht die Not und nicht die Angst der Frauen, die da warteten. Ich wurde weggedrängt und stand auf einmal vor ihm. Der Soldat kam mir bekannt vor. Jirschi? Konnte er das sein? Eine breite, rote Narbe auf einer Wange ließ ihn gefährlich aussehen. Ich hoffte, daß er in der verhärmten Gestalt, die vor ihm stand, nicht das Mädchen erkennen würde, das er auf einem ähnlichen Bahnhof so zärtlich in den Armen gehalten hatte. Kein Lächeln verriet, daß er wußte, wer ich war. Er fuhr mich an: "Du BDM-Mädchen da, sag den Nazigruß!" Er hatte mich erkannt. Vor Entsetzen brachte ich kein Wort hervor. Er riß mir die Kanne aus der Hand und schwups hatte ich einen Schwall Wasser im Gesicht. Mein Herz blieb fast stehen, ich schwankte und schloß die Augen. Für einen Moment hatte ich eine Vision, sah ein lachendes Jungengesicht, braune Augen, die übermütig strahlten und hörte die Worte: 'Wenn du schreist, heirate ich dich nicht.' Das Bild entschwand. Wie unter einem Zwang murmelte ich: "Jirschi, ich habe Durst." Ich spürte, wie mich jemand am Arm packte. Ich öffnete die Augen, vor mir stand der fremde Jirschi. Zornig klang sein Befehl: "Hier hast du Wasser. Trink!" Er hielt mir meine Kanne hin, dabei zog er mich näher und hob einen Arm. Ich glaubte, er wolle mich auch noch schlagen. Sein Gesicht war direkt vor dem meinen, leise, daß ich es kaum verstand, flüsterte er: "Wir haben beide kein Glück. Gott schütze dich." Sekundenlang schaute er mir mit einem wehmütigen Lächeln in die Augen, es war wie ein Gruß für mich. Dann stieß er mich von sich, ich drehte mich um und stolperte schluchzend zum Zug zurück. Als er sich in Bewegung setzte, sah ich Jirschi am Schuppen stehen, er schaute zum Zug herüber. Niemand in meiner Nähe konnte ahnen, warum ich weinte, sie glaubten, der fremde Soldat habe mir weh getan. Es stimmte auch, doch waren es keine körperlichen Schmerzen, die er mir bereitet hatte. Jahre sind seit diesem Tag vergangen, manchmal denke ich noch daran, dann wünsche ich, daß Jirschi, genau wie ich, das Lachen wieder gelernt hat. *** |