Was Großmutter erzählt

Großmutters Erzählungen fanden selten Anklang, jeder ob groß oder klein, winkte ab: "Ach, Oma, das ist ja schon so lange her."

Eines Nachmittags bei einer Kaffeetafel im Kreise der Familie sollte es anders werden. Die jüngste Enkelin Gesa wollte bei ihren Eltern ausziehen. Die Großmutter schüttelte den Kopf, in ihrer Jugend hatte es das nie gegeben. Sie beteiligte sich nicht mehr an den Gesprächen, ihre Meinung war nicht erwünscht. Dann begann die Diskussion über Betten. Sie hörte eine Weile zu und kehrte in ihren Gedanken um siebzig Jahre zurück. Verträumt lächelte sie vor sich hin. Die ausziehwillige Enkelin Gesa bemerkte es und sagte: "Oma, was lachst du so, an was denkst du, erzähl doch mal."

"Wollt ihr mir wirklich zuhören? Interessiert es euch, welches Bettzeug vor siebzig Jahren eine junge Dame mit aus dem Elternhaus nahm? Natürlich fand dieser Auszug erst nach der Heirat statt. So wie ihr es heute macht, das wäre damals skandalös gewesen."

Großmutter ließ sich noch eine kleine Weile bitten, dann fing sie an zu erzählen:

"Damals mußte die Braut noch eine anständige Ausstattung mit in die Ehe bringen. Gut, es gab Unterschiede, bei einigen war sie teuer und kostbar, bei den anderen reichte es gerade für zwei Zimmer.

Ich denke an meine Eltern, sie waren keine Millionäre. Aber an meine Aussteuer dachten sie, schon, als ich vielleicht ein achtjährigen Mädchen war. Angefangen hatte das mit dem Bettzeug. Für die Oberbetten konnten nur weiße Gänsefedern das Echte sein. Sie waren teuer, aber man konnte sie von Jahr zu Jahr ansammeln.

Heute kauft ihr die Gänse so schön bratfertig im Supermarkt. Damals kaufte meine Mutter bei einem Bauern zu Weihnachten und vielleicht auch zu Martini eine geschlachtete Gans. Sie trug noch ihr Federkleid. Es bedeutete für die Hausfrau viel Arbeit, die Gans für das Festessen vorzubereiten. Ausnehmen und die vielen Federn rupfen nahm einige Stunden in Anspruch.

Die ausgerupften Federn kamen in einen schon etwas dünnen Kopfkissenbezug und wurden darin auf dem Oberboden luftig aufgehängt. Im Februar, wenn die Tage heller wurden, aber noch tiefer Schnee auf den Straßen lag und das Thermometer viele Minusgrade anzeigte, fand meine Mutter damals: 'Das ist die rechte Zeit zum Federnschleißen.'

Denn ihr müßt wissen, so wie die Federn der Gans ausgerupft wurden, waren sie als Füllung für warme und weiche Oberbetten nicht geeignet, die Federkiele hätten ganz schön gestochen.

Meine Mutter lud darum einige Freundinnen zur Hilfe ein, sie kamen bereitwillig, denn auch sie würden bald die Hilfe meiner Mutter in Anspruch nehmen. Die beiden Großmütter kamen und auch die Waschfrau. In der Küche wurde der große Eßtisch ausgezogen, die Gänsefedern vom Boden geholt und auf dem Tisch ausgeschüttet. Jede Frau band sich eine Schürze und ein Kopftuch um, denn bald würde sich leichter weißer Staub auf Gesicht, Kleidung und die Küchenmöbel legen.

Meine Mutter schenkte allen zum Ansporn ein Likörchen ein. Dann nahmen fleißige Hände die großen und kleinen Federn auf und streiften die Daunen vom Kiel ab. Die Finger regten sich, die federleichten Häufchen mehrten sich und die Münder der Frauen standen nicht still. Ich glaube, erst die Unterhaltung machte diese Arbeit zu einem Vergnügen.

Ich wäre so gerne dabei gewesen, Federnschleißen erschien mir als das Höchste. Aber ich sollte mit meinem Bruder zum Schlittenfahren gehen. Ein Lehrjunge aus Vaters Schmiede wurde freigestellt, um mich und meinen Bruder auf einem Schlitten zur Rodelbahn zu ziehen. Dann sausten wir abwechselnd den Berg hinunter, während der Lehrjunge zu Fuß hinunterlaufen mußte, um unseren Schlitten wieder herauf zu ziehen. Aber oft setzte er sich auf der kleinen Anhöhe schnell allein auf den Schlitten und genoß das Vergnügen des Rodeln, während mein Bruder und ich ihm drohten, wir würden alles meinem Vater erzählen.

Als wir froren und voller Schnee waren, brachte uns der Junge zurück. Der Vespertisch war gedeckt. Mutter hatte einen großen Teller mit Streuselkuchen hingestellt und Kaffee. Der frische Kuchen schmeckte allen. Ich hatte vom Schlittenfahren großen Hunger mitgebracht und griff fleißig zu.

Dann endlich durfte ich beim Federnschleißen helfen. Ich bekam einen kleinen Berg Federn vor mir aufgehäuft, meine Mutter zeigte mir, wie ich die Federn von den Kielen abstreifen mußte. Aber schon fast im gleichen Moment wurde auf mich geschimpft, ich bewegte mich viel zu schnell, Wolken von Federchen waren durch die Luft geflogen. Ein andermal lachte ich zu heftig und pustete dabei die Luft über den Federberg. Ich ließ zu viele Kielen an den Federn. - - So einfach wie die Arbeit aussah, war sie nicht und mein Eifer ließ nach.

Aber ich wollte dabei sitzen und zuhören. Damals gab es kein Fernsehen, keine Comic-Hefte und keine Ober- oder Unterirdischen. Oh doch, die letzeren gab es, aber ihr werdet heute nur darüber lachen und sie als Märchen abtun.

Meine Breslauer Großmutter verreiste nie ohne ihr Traumdeutungsbuch, sie glaubte, daß die Träume die Zukunft weisen würde. Was die alles wußte und was die Frauen für komische Sachen träumten. Ich verschluckte mich bald beim zuhören. Sie kannte aber auch viele Geschichten aus vergangenen Tagen. Eine will ich euch erzählen.

Ihre Mutter war 1830 geboren, also vor mehr als einhundertsechzig Jahren. Überleg mal Gesa, wenn du meine Enkelin bist, dann war diese Frau deine Ur-Ur-Ur-Großmutter. Kannst du dir das vorstellen? Für mich geschah diese Geschichte schon vor undenklichen Zeiten, für dich müßte sie fast im finstersten Mittelalter passiert sein.

Diese Urahnin wurde früh Witwe, sie mußte im Alter mühsam ihren Lebensunterhalt verdienen. Mit einem kleinen Handwagen, vor dem ein Hund gespannt war, wanderte sie bei Nacht und Nebel mit Gemüse aus ihrem Garten in die nächste große Stadt, um es zu verkaufen. Der weite Weg führte sie durch Wiesen und Wälder, aber auch an einem "Galgenberg" genannten Platz vorbei. Hier hatten zu ihren Zeiten noch Hinrichtungen stattgefunden. Die Urahnin hatte oft von der Höllenangst berichtet, welche sie an diesem Platz empfand, wenn sie im Morgengrauen manchmal noch so einen armen Sünder am Galgen hängen sah.

Als sie ein andermal im Winter über einen Friedhof ging, um den Weg abzukürzen, wäre dieser Urahnin ihr als kleines Kind gestorbenes Töchterchen im weißen Hemdchen, mit einer Rose in der Hand, entgegen gekommen und hätte gesagt, die Mutter solle nicht mehr weinen, sie sei im Himmel, es würde ihr dort so gut gehen."

Ein Geräusch war zu hören, es klang wie unterdrücktes Lachen. Großmutter erhob ihre Stimme und sagte empört: "Gut, wenn ihr mich auslacht, höre ich mit meiner Erzählung auf. Tommy, warum schaust du denn immer so hingerissen die Filme an, in denen so ein Monster von der Galaxis kommt oder Alf im Wohnzimmer eine ganze Familie zum Narren hält. Das ist doch auch nichts anderes!"

"Ach, Oma, erzähl weiter, deine Geschichte ist so spannend. Ich lache auch nicht mehr" antwortete Tommy darauf.

Oma nahm einen großen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und berichtete weiter:

"Während die Frauen immer mehr zu erzählen wußten, war draußen die Dämmerung hereingebrochen. Das Knistern der brennenden Holzscheite im Ofen war zu hören, es war beruhigend. Aber ihr könnt mir glauben, daß mir trotzdem bei manchen Geschichten vor Grauen die Haare zu Berge gestanden hatten, doch die Geschichte von dem kleinen Mädchen rührte mich am meisten. Ich fing an zu weinen; das arme kleine Mädchen, was mußte sie in ihrem Hemd gefroren haben. Ich dachte an die Schlittenfahrt, bei der mir trotz dickem Mantel schon so kalt geworden war.

So ging es weiter, ich sperrte Mund und Ohren auf. Eine sprach davon, daß die Magd vom Bauern Schmidt, ein Kind bekäme, der Vater sei. . . . Hier hielt meine Großmutter der Erzählenden den Mund zu und wies auf mich. Meine Mutter schickte mich zum Ofen, ich sollte Holz nachlegen. Irgend etwas durfte ich nicht hören, nur warum nicht?

Ihr werdet mich nun auslachen, aber ich wußte damals nur, daß der Klapperstorch die Kinder brachte. Ihr wißt ja heute schon im Kindergarten über alles Bescheid.

Dann machte mein Vater Feierabend in seiner Schmiede, die Männer der helfenden Frauen erschienen. Es würde gleich Abendbrot geben. Eine große Schüssel mit Kartoffelsalat stand schon in der Speisekammer, die Knoblauchwurst kam in das kochende Wasser, ich half meiner Mutter beim Tischdecken. Dann sollte ich die irdene Schüssel mit dem Salat holen. Ich sollte gut aufpassen, daß ich sie nicht fallen ließe.

Ich stolperte mit der Schüssel in den Armen über die Türschwelle und lag längelang auf dem Fußboden. Die Schüssel war in Scherben, der Salat lag auf der Erde. Ich schrie wie am Spieß, ich hatte Angst vor Strafe, aber als ich sah, daß meine Hände bluteten, schrie ich noch lauter. Meine Mutter schimpfte gar nicht und nahm mich in ihre Arme, mein Vater holte Verbandszeug. Die eine Großmutter versuchte, vom Kartoffelsalat noch etwas zu retten.

Nach diesen Aufregungen saßen endlich alle am Abendbrottisch, ich weiß, daß es jedem gut geschmeckt hatte und der Rest des Kartoffelsalats sehr gelobt wurde.

Nach dem Abendbrot wurden mein Bruder und ich sofort in die Betten gesteckt. Die Frauen wollten die Federn zu Ende schleißen, die Männer setzten sich zum Skat. Ich konnte nicht einschlafen. Nixen, Rübezahl und Gespenster tanzten um mein Bett, die Hände taten mir weh. Lachen und lautes Rufen der Skatspieler drangen durch die Tür. Aber irgendwann kam der Sandmann - - der kam damals wirklich noch - - und tauchte mich in tiefen Schlaf."

Großmutter beendete mit einem tiefen Seufzer ihre Erzählung. Sie schaute überrascht in die Runde. Keiner war vom Tisch aufgestanden, alle hatten ihr gespannt zugehört, es gab doch noch Wunder. Gesa fragte: "Oma, warum erzählst du uns nicht öfter aus deiner Jugend, damals muß es doch irre gewesen sein."

Na ja, Großmutter lächelte wieder still vor sich hin: "Irre war es wirklich, vor allem wenn ich euch erzähle, was mit den schönen Gänsedaunen passierte. Sie lagen in leuchtend roten Inletts in meiner Aussteuertruhe als im Januar 1945 mein Elternhaus in Flammen aufging.

Vielleicht ist es ganz gut, daß ihr euch heute nicht mehr um eine Aussteuer sorgt, denn wenn ich es recht betrachte, hatte ich auch keine, als ich heiratete."

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