Der geheimnisvolle Briefumschlag An einem warmen Sommerabend waren Ursula und Günter Weiding mit dem Auto unterwegs. Ohne festes Ziel waren sie durch die Gegend gefahren. Es war schon bald Mitternacht, als Günter endlich an die Heimfahrt dachte. Zu seiner Frau sagte er: "Ich möchte nur noch diese schmale Nebenstraße entlang fahren, ich will sehen, wohin man da kommt. Dann geht es schnell nach Hause." Auf einmal spürte Günter, daß der Wagen nicht mehr richtig zog. Dann trat ein, was er befürchtete. Das Auto blieb stehen und wollte nicht mehr anspringen. Günter überlegte, was zu tun sei. Es war einsam hier, seit einigen Kilometern hatte er kaum noch Häuser gesehen. Überall herrschte Dunkelheit. Günter seufzte. Er stieg aus und schaute sich um. Zu Ursula gewandt sprach er: "Du, da oben auf dem Hügel steht ein Haus. Ich gehe mal hinauf. Vielleicht kann ich jemanden herausklopfen und von dort eine Werkstatt anrufen, die uns weiterhilft." Ursula schaute ihrem Mann nach. Nach einer Minute sah sie, wie in dem Haus Licht anging und ihr Mann das Haus betrat. Sie glaubte, daß Günter sehr lange in dem Hause geblieben war, als die Tür wieder aufging und ihr Mann heraus stürzte. Ursula hörte Schritte im Dunkeln und war froh, als sie ihren Mann erkannte. Endlich war er am Auto. Günter stieg sofort ein und setzte sich neben sie. Aber es mußte etwas passiert sein, Günter war völlig verändert und seine Hände zitterten. Daß er so stillschweigend mit blutleeren Lippen neben ihr saß, machte ihr Angst. Sie bestürmte ihn, ihr zu sagen, was sich in dem Haus abgespielt habe: "Erzähl doch Günter. Was war los? Warum bist du wie von Furien gejagt aus dem Haus gekommen?" Er schwieg und schüttelte nur den Kopf. Er konnte kein Wort hervorbringen. Entsetzliches hatte er in den letzten Minuten erlebt. Er sah es wieder vor sich. Er hatte an die Tür des einsamen, finsteren Hauses geklopft. Im Hausflur ging ein Licht an. Ein Mann öffnete ihm und führte ihn in ein spärlich eingerichtetes Zimmer. Dort saßen noch ein Mann und eine Frau an einem Holztisch. Tassen standen darauf, eine Flasche Wodka und einige volle Schnapsgläser. Eine grelle Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, spendete gespenstisches Licht. Günter sah die auf ihn gerichteten, erschrockenen Blicke. Er fragte nach einem Telefon. Er verstand nicht alles, was ihm in einem gebrochenen Deutsch geantwortet wurde. Ein Telefon hatten die Leute nicht. Sie waren erst vor einem Monat aus Rußland gekommen, sie fühlten sich verlassen. Günter fand das in dieser Einöde nicht sehr verwunderlich. Enttäuscht wandte sich Günter zum Gehen. Da erklangen vor der Tür Worte in einer fremden Sprache. Die Bewohner sprangen von ihren Stühlen. Günter wurde es unheimlich, er wollte dieses Haus sofort verlassen. Der Mann, der ihm geöffnet hatte, stürzte zu Günter und drückte ihm einen dicken Umschlag in die Hand. Dann ging die Tür mit einem Ruck auf. Günter, der hinter ihr im Verborgenen stand, konnte die Besucher nicht sehen. Er hörte die Frau gellend aufschreien. Dumpfe Schüsse ertönten. Günter sah die Menschen umfallen. Dann war Stille. Hinter dem Haus klappte eine Autotür und ein Motor sprang an. Günter kehrte mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück und beruhigte sich langsam. Stockend erzählte er sein grauenvolles Erlebnis. Als er schwieg, sprach Ursula leise: "Was können wir tun? Wer waren diese Menschen, warum taten sie es? Ich fürchte mich hier!" Günter beruhigte seine Frau, obwohl er auch Angst hatte: "Nein, die sind weg, da war noch eine Tür, die zu einer Straße führte. Ich habe ein Auto mit quietschenden Reifen abfahren hören." "Verfluchtes Auto!" Voller Verzweiflung schlug Günter wütend auf das Armaturenbrett. Er versuchte zu starten. Wider Erwarten sprang der Motor an. Günter atmete tief auf. Er fuhr ab, ohne die Scheinwerfer anzustellen. Irgendwann konnte er auf eine Hauptstraße abbiegen. Straßenschilder tauchten auf, eine Autobahnauffahrt wurde angezeigt. Ursula sah es und sprach: "Laß uns schnell nach Hause fahren, keiner weiß, daß wir hier waren." Günter empfand ebenso und fuhr mit hoher Ge-schwindigkeit zur Autobahn. Dann rührte sich sein Gewissen: "Nein, das können wir nicht tun. Wenn noch einer lebt? Wir würden uns immer schuldbewußt fühlen. Bei der nächsten Raststätte halte ich und rufe die Polizei an." Ehe sie zu einer Raststätte gelangten, zeigte ein Schild an, daß eine Polizeistation in der Nähe war. Günter fuhr zu ihr hin. Es wurde eine unangenehme Stunde. Die Polizisten wollten ihm zuerst nicht glauben, fragten Günter, ob er getrunken habe, es klänge alles so unwahrscheinlich. Außerdem hatte Günter keine Ahnung, wo dieses Haus lag. Inzwischen ärgerte sich Günter schon, daß er überhaupt zur Polizei gefahren war. Er dachte an die vielen Unannehmlichkeiten, die er als Zeuge dieser gräßlichen Bluttat bekommen würde. Erschöpft verließen Ursula und Günter die Polizeistation. Sie hatten einiges über diesen Überfall erfahren. Die Menschen waren alle tot. Die Täter waren noch nicht bekannt. Tagelang wurde das brutale Verbrechen in den Medien behandelt. Von den Tätern fehlte immer noch jede Spur, es war auch kein Tatmotiv zu erkennen. Ursula vermutete: "Das war die russische Mafia!" Günter äußerte sich nicht. Er konnte nicht über diese Minuten, die sein Leben veränderten, sprechen. Mit Mühe konzentrierte er sich tagsüber auf seine Arbeit. Doch nach Feierabend überfiel ihn immer stärker die gleiche Angst, die er in jenem Hause empfunden hatte. Vor einer Stunde war seine Schwester mit ihren Zwillingen auf Besuch gekommen. Er ließ Ursula die Tür öffnen. Die Zwillinge, die in Günter vernarrt waren, stürmten mit Spielzeug-pistolen in den Händen auf Günter zu und fingen an, damit zu schießen. Günter sprang auf, riß den Jungen die Pistolen aus der Hand und warf sie aus dem geöffneten Fenster. Wütend schrie er seine Schwester an: "Willst du sie zu Mördern erziehen?" Günter rannte in das nächste Zimmer und knallte die Tür zu. Kurze Zeit später hörte er, wie seine Schwester das Haus verließ. Was konnte er tun, um diese entsetzliche Erninnerung zu verdrängen? Am besten wäre es, Urlaub zu nehmen und einige Tage weit weg zu fahren. Aber er konnte es sich nicht leisten, für das vor kurzem gekaufte Haus waren hohe Zahlungen fällig. Ursula kam zu ihm und machte ihm Vorwürfe. Sie riet ihm: "Du mußt mit jemanden reden, gehe doch zu einem Psychiater!" Günter lachte trocken auf. "Wer bezahlt ihn? Außerdem muß ich morgen endlich den Wagen zur Reparatur bringen, der springt immer noch so schlecht an. Alles kostet Geld, das wir nicht haben." Er raffte sich auf und ging in die Garage. Er räumte das Auto aus. Unter dem Fahrersitz sah er einen dicken, braunen Briefumschlag liegen. Erstaunt und ratlos nahm er ihn in die Hand. Wer hatte ihn unter den Sitz geworfen? Plötzlich fiel es ihm siedendheiß ein; es war der Umschlag, den ihm der Mann in dem einsamen Haus gegeben hatte. Zögernd riß er ihn auf. Es traf ihn wie ein Schlag, dreißig Tausendmarkscheine lagen darin. Was sollte er damit machen? Er mußte das Geld zur Polizei bringen. Aber je länger er es in der Hand hielt, desto schwerer wogen die Tausendmarkscheine. Keiner ahnte etwas von ihnen. Alle, die es wissen konnten, waren tot. Und die Mörder würden sich nicht melden. Mit einem Ruck schob er das Geld in eine Tasche seines Jogginganzuges. Günther empfand es als gerechte Entschädigung für das Schreckliche, was er erlebt hatte. Sein Gewissen würde ihn diesmal nicht plagen. Gleich morgen wollte er eine weite Reise für sich und Ursula buchen. *** |