Besuch bei Paula

"Wo willst du hin, Ilse? Bis nach Hause ist es weit. Wenn wir später abfahren, geraten wir bestimmt wieder in einen Stau", ungeduldig rief es Walter seiner Frau zu.

"Ich muß noch zu Paula. Sie ist beleidigt, wenn ich sie am Wochenende nicht besuche. Du kannst schon alles einpacken. In einer Viertelstunde bin ich zurück."

"Deine Viertelstunde kenne ich. Du, ich fahre irgend wann einmal ohne dich ab", kopfschüttelnd schaute Walter seiner Frau nach, die bereits zwischen den Feldern verschwand.

Atemlos kam Ilse auf dem Bauernhof an, der ihren Freunden Paula und Gustav gehörte. Sie lief gleich in die große Küche, in der Paula mit finsterem Gesicht stand. Ihre Begrüßung war nicht sehr freundlich: "Wieder mal keine Zeit für mich gehabt? Ja, alte Leute sind schnell vergessen."

"Ach, Paula, schau nicht so böse. Wenn wir in unserem Wochenendhaus sind, kommt ständig Besuch. Alle denken, Walter und ich freuen uns, wenn sie wie die Heuschrecken über uns herfallen."

"Hoffentlich hast du jetzt wenigsten viel Zeit mitgebracht!"

"Ich kann nicht lange bleiben." sagte Ilse bedauernd und sah Paula zu, wie sie das Kaffeewasser aufsetzte."Walter wartet. Was gibt es Neues bei dir?"

"Nicht viel, ich sehe kaum einen Menschen, nur die Kühe auf der Weide." klagte Paula und stellte Kuchen auf den Tisch. Sie war wieder versöhnt und sprach mit einem Lächeln: "Bitte nimm dir. Es ist Hochzeitskuchen. Marlies hat gestern geheiratet. Gustav und ich waren auch bei der Feier."

"Deine Enkelin hat geheiratet? Erzähl mir von der Hochzeit", sagte Ilse mit vollem Mund.

"Es war alles vom Feinsten. Marlies ist glücklich, daß ihr Mann zugestimmt hatte, auf dem Hof zu leben. Er will sogar später die Landwirtschaft seines Schwiegervaters übernehmen."

Paula erzählte immer weiter, aber Ilse hörte der eintönigen Stimme nicht mehr zu. Sie wußte, wenn Paula einmal anfing, hörte sie so schnell nicht auf. Und Walter würde schon warten. In Ilses Gedanken drangen Worte wie: "Dreihundert Gäste" und "Dann sind wir alle zur Wohnung von Marlies gegangen und haben die Aussteuer bewundert."

"Was habt ihr? Dreihundert Leute sind durch das Schlafzimmer gegangen? Was ist das für eine barbarische Sitte!"

"Ilse", Paula war empört, "hast du mir nicht zugehört? Es waren nicht alle dort. Die jungen Leute halten nichts mehr von diesem schönen Brauch. Die großen Schränke in der Diele waren voll selbstgesponnenem Leinen. Das muß so sein."

"Du willst mir doch nicht erzählen, daß Marlies alles selbst gesponnen und gewebt hat."

"Das meiste war von mir", gab Paula zu. "Die jungen Dinger können heute nichts mehr. Als ich geheiratet habe, da mußte ich . . ."

Schnell unterbrach Ilse sie, sonst würde sie wieder Paulas ganze Lebensgeschichte hören. "Hör mal, du bist sechsundachtzig Jahre alt. In deiner Jugend war es eben anders. Übrigens habe ich heute eure Nachbarin, die Frau Erlemeier gesehen. Sie war ganz in schwarz. Hat sie Trauer?"

"Es ist ganz schrecklich!" Paula zog ihr Taschentuch aus der Schürze und wischte sich eine Träne ab. "Das jüngste Kind von Erlemeiers ist vor zwei Wochen gestorben."

Betroffen meinte Ilse: "Wie kann denn so etwas passieren? Ist sie überfahren worden?

"Nein, nein", erklärte Paula, "die Kleine hatte einen Dickkopf. Und an jenem Abend sperrte sie Frau Erlemeier aus der Küche aus und ließ sie in der Diele stehen, sie sollte erst wieder rein kommen, wenn sie brav sei."

"Ja, was ist denn dort passiert?"

"Als die Kleine nicht mehr schrie, wollte ihre Mutter sie wieder rein holen. Das Mädchen lag auf dem Fußboden und war eingeschlafen. So dachte wenigstens die Mutter. Aber sie war tot."

Ilse fragte weiter: "Aber was war denn der Grund? War ein Arzt da, konnte der Kleinen niemand helfen. So schnell kann doch . . ."

Paula fiel ihr ins Wort: "Ja, ganz schnell war der Notarzt da und die Polizei."

"Oh", fragte Ilse mit Spannung in der Stimme, "ist sie ermordet worden?"

"Du siehst zuviele Krimis!" behauptete Paula. "Die Kleine ist einfach so gestorben. Wahrscheinlich hatte sie was am Herzen."

"Mit drei Jahren etwas am Herzen?"

"Nein, ich werde doch damit nicht scherzen!" Paula war ganz erregt.

Ilse lachte: "Paula! Warum trägst du dein Hörgerät nicht, du verstehst alles falsch."

"Ich höre gut. Du brauchst nicht laut sprechen, nur deutlich, dann verstehe ich alles."

Ilse fand es besser, ihr nicht zu widersprechen. Dann kam Paulas Mann zur Tür herein. Erfreut begrüßte er Ilse: "Oh, das ist aber schön. Bleibst du lange? Da kannst du noch zur Beerdigung bei Erlemeiers mitgehen."

Paula rief aus: "Gustav, spinnst du? Die Beerdigung war doch vor zwei Wochen. Hast du das schon wieder vergessen, du wirst auch alt."

Gustav schüttelte betrübt den Kopf: "Nee, Paula, was du immer mit meinem Alter hast, das eine Jahr, das du jünger bist. Aber ich meine die Beerdigung von Frau Erlemeier, die ist nämlich auch tot."

"Nein, das kann doch nicht sein, die ist doch grade erst dreißig!" Paula weinte schon wieder, während Ilse ungläubig ausrief: "Ich habe sie doch vor ein paar Stunden noch gesehen. Das ist ja grauenhaft, lag sie vielleicht auch in der Diele?"

"Viel schlimmer", Gustav wagte kaum, den nächsten Satz auszusprechen, "die hat sich erhängt. Ihre Schwiegermutter wollte eine Stalltür öffnen, die ging so schwer auf. Dann bemerkte sie, daß Frau Erlemeier sich innen an der Tür erhängt hatte."

Paula und Ilse saßen vor Erschütterung sprachlos am Tisch. Ilse stand auf: "Solch eine Tragödie, die arme Familie. Aber ich muß gehen. Walter wartet."

***